WER STRICKT, SCHIESST NICHT – Rio Severin
Wie Handarbeit und Plotten sich ergänzen.
Wer redet, schießt nicht. So besagt der Volksmund.
Über das Wochenende bin ich im Gästezimmer eines Bauernhofes in der sächsischen Schweiz untergekommen. Nach einem Abendessen, bei dem selbstgebackenes Brot und heimische Wurstspezialitäten kredenzt wurden, genieße ich auf der gepolsterten Eckbank den Ausklang des Tages.
Der Gastgeber hat mir angeboten, ihn in die Dorfgaststätte zu begleiten, doch ich lehnte ab. Salsa würde einen Aufstand proben, bliebe sie alleine zurück. So sitze ich mit der Hausfrau vor einem Glas Pilsener Bier und beobachte sie beim Handarbeiten. Im Kamin knistert ein wärmendes Feuer. Das heimelige Bild erinnert mich an meine Madre und ich kämpfe mit dem Gefühl der Wehmut, das mir die Brust verengt.
Dann lausche ich ihren Erzählungen.
Sie habe mit dem Stricken begonnen, da war sie in der Pubertät. Pullis, Socken, Mützen. Jetzt, im zweiten weiblichen Hormontumult, kam es zurück, dieses Bedürfnis, die Hände kreativ einzusetzen. Und zeitgleich das Schreiben.
Ob das ambivalent sei, fragt sie? Ich überlege. Beides erfordert hundertprozentige Aufmerksamkeit. Sie lacht und attestiert, sie leide an einer Art Persönlichkeitsstörung, einer Strick-ADHS. Ihre Finger gieren nach Beschäftigung.
Die Maschen wechseln von einer Nadel auf die Andere. Auf dem schimmernd gewachsten Holztisch liegt ein Notizblock, daneben ein gespitzter Bleistift. Beim Stricken fielen ihr die besten Geschichten ein, erklärt sie. Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb schreibt sie Unterhaltungsromane. Sie lässt mich teilhaben an ihren Gedanken.
Einen Thriller im kirchlichen Milieu wird ihr nächster Bestseller, meint sie augenzwinkernd. Es wäre der Erste in ihrer Vita. Sie wechselt das Handarbeitsgerät aus der rechten Hand in die linke, nimmt den Stift auf und notiert: Kardinal, Macht, Wissen, Ehre. Dann strickt sie weiter. Dabei spinnt sie das Fragment ihrer Story.
Ein junger Mann aus der ländlichen Gegend kommt in eine Domstadt, um in der vom Klerus geführten Universität zu studieren.
Nein, sagt sie, Kirche liegt ihr doch nicht. Die Nadeln klimpern und sie kräuselt die Stirn. Drei Maschen rechts, eine links verschränkt, dann der Zopf über sechs Schlingen.
Sie beginnt von vorne. Diesmal ist der junge Mann mit dem Auto unterwegs auf einer Landstraße. Die Trauer um den Verlust der großen Liebe hat ihn fliehen lassen. Auf einer wenig befahrenen Straße trifft er auf eine schwarze Limousine, die mit einer Reifenpanne am Straßenrand liegt. Der schwitzende, korpulente Fahrer im verknitterten Anzug hievt ein Ersatzrad aus dem Kofferraum.
Der junge Mann stoppt den Wagen, steigt aus und fragt, ob er behilflich sein kann. Die Tür des Fonds öffnet sich und aussteigt – jawohl – ein Kardinal! In knöchellanger Robe mit lila Galero.
Ich merke an, auf Reisen trüge er nur einen Anzug, aber sie beharrt, ein offizielles Outfit wirke dramatischer.
Der beleibte Geistliche wird dringend in der Stadt erwartet, um dort eine Zeremonie – welche klärt sie später – zu vollziehen. Er überredet den jungen Mann, ihn zu fahren. Auf den Pannendienst zu warten, würde ihn unnötig Zeit kosten.
Schnell strickt sie die Reihe zu Ende. Ich ergreife ihren Stift und schenke ihr einen fragenden Blick. Sie nickt und ich ergänze ihre Mindmap: Kardinal – Panne – Zeremonie, junger Mann – Freundin – Trauer – Ego – Wut – Fiat Panda.
Sie lacht und ich stimme ein. Ein naserümpfender Geistlicher in einem Kleinwagen. Auf dem Beifahrersitz mit Schafwollbezug. Im Hochsommer. Perfekt!
Automatisch klappern ihre Nadeln, die Wolle streichelt im Vorübergleiten ihren linken Zeigefinger. Wir beide sinnieren. Sie schweigt, also führe ich die Geschichte fort.
Der junge Mann rast, den Kardinal ignorierend, über die Landschaft. Er hat nichts am Hut mit Spiritualität. Die frömmelnde Mutter fehlte in keiner Andacht im Dorf. Daher fühlt er sich von der Glaubensgemeinschaft um die elterliche Fürsorge betrogen. Wohin mit seiner Wut? Er initiiert ein Streitgespräch mit dem Vertreter des Klerus an seiner Seite.
Dieses gipfelt darin, dass er den Wagen am Straßenrand per Vollbremsung zum Stehen bringt und das Auto verlässt, um sich zu beruhigen. Und um nicht dem Moralprotz an die Gurgel zu springen.
Der Geistliche kommt ihm nach, entschuldigt sich. Der junge Mann bleibt stumm, weigert sich, wieder in den Panda zu steigen.
So ist es der Kardinal, der kurzum hinter das Steuer klettert und den Motor aufheulen lässt. Bevor der Kleriker davonbraust, hechtet der Jüngere in den Wagen. Erneut entsteht eine wilde Debatte, beide geraten dermaßen in Streit, dass sie der heftige Aufprall schockt.
Der Panda stoppt und die Männer steigen aus, entdecken den leblosen Körper, der auf der Straße liegt.
Ich senke den Blick auf die schlafende Hündin zu meinen Füßen. Reicht der momentane Frust aus für eine Leiche? Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich dagegen. Ich bin Optimist.
Was jetzt? Eine Fahrerflucht inszenieren? Den Verunglückten auf offener Straße liegen lassen? Ich schüttle innerlich den Kopf. Zu harter Tobak, selbst für einen Geistlichen.
Die zwei nähern sich vorsichtig der Gestalt. Ich kraule abwesend Salsas Ohren, die ein genüssliches Brummen ausstößt. Da! Der Überfahrene stöhnt. Er ist nicht tot – Noch nicht. Kardinal und junger Mann helfen dem Unfallopfer auf die Beine. Er ist nur leicht verletzt. Hat eine Prellung an der linken Hüfte, wo der Seitenspiegel ihn getroffen hat. Sie nehmen den Unbekannten im Wagen mit zur nächsten Arztpraxis. Seine murrende Gegenwehr ignorieren sie. Auf der winzigen Rückbank zusammengefaltet – der Mann ist fast ein Meter neunzig groß – lässt er das Kidnapping im Namen der Barmherzigkeit geschehen. Das könnte lustig werden.
Dann herrscht Funkstille in mir. Das Klappern der Stricknadeln kratzt an meinen Ohren. Die sonnige Landstraße verblasst. Emotionen prasseln auf mich ein, wiederkehrend wie jeden Abend. Der Blick auf die tickende Wanduhr schenkt mir Gewissheit. Mein Kopf katapultiert mich in meinen ganz individuellen Plot.
Eine Wut, die unter der Oberfläche schwelt, lässt meine Hände unsichtbar zittern, vertreibt den Einklang in mir, die Ruhe, die der unbekannte Plot verschaffte, weil er den unsteten Geist beruhigt hat. Seit der Therapie lebe ich in partiellem Ausnahmezustand, vor allem hier, am anderen Ende der Welt.
Die Tour ist eine Flucht aus dem Trümmerhaufen meines Lebens. Lustige Geschichten erleben, bunte Farben aufnehmen in einem fernen Land. Um das Gift des Erlebten zu neutralisieren. Emotionen lösen den Anker und ich habe nicht die Macht, sie zu unterdrücken.
Platzhalter! Auf meiner Festplatte „Gehirn“ rufe ich auf: Gespeicherte Bilder – Begegnungen – Positiv – Ausstehend.
Ich scrolle und eine Szene schiebt sich vor mein inneres Auge. Sofort beruhigt sich mein Herzschlag, macht einem lieblicheren Gefühl in meiner Brust Platz.
Ich sollte dich kontaktieren, begreifen, was das Gefühl zu bedeuten hat. Wer hört meine Unsicherheiten, die ich verschweige? Woher kommt die Gewissheit, dass du mich nicht auslachst? Dass du erklären kannst, was mir verborgen bleibt?
Wir brauchen uns nicht, kommen alleine klar. Aber etwas in mir flüstert, dass du wichtig bist, werden wirst, immer warst. Du könntest der Schlüssel sein, bist so weit weg. Und doch spüre ich deine Nähe, jeden Tag, überall.
Ich habe den Traum, dass du mir eine Nachricht schickst, rückblickend auf jenen Tag.
Hey. Wir kennen uns. Vielleicht erinnerst du dich nicht, du hattest zu tun. Aber ich habe nicht vergessen. Wir haben uns unterhalten. Gefragt, geantwortet, offen gelassen. Dann trennten sich unsere Wege, obwohl es so viel zu besprechen gäbe. Würdest du abheben, wenn ich anriefe? Ich hatte eine Scheißzeit. *zwinkersmiley*
Und ja, ich würde antworten.
*Zwinkersmiley* zurück. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert. Ja, lass uns quatschen.
Ich verliere mich kurz in der Phantasie, verschließe sie dann wieder in meinem Herzen.
Wir beide sind Eigenbrötler, unterwegs auf getrennten Pfaden, haben uns entschieden. Wir sind belastbar, lustig und Everybodys Darling. Beschützen und verstehen. Nichts wirft uns um.
Niemand stellt sich die Frage, wer uns versteht und beschützt. Wer tankt unsere Batterien wieder auf? Held sein ist Singlejob. Dieser eine Moment schenkte uns den Anflug eines Herzenswunsches. Den Klang einer Freundschaft, die tiefer gründet, nicht von dieser Welt sein kann.
Das Leben hat anderes vor. Wir nähren uns selbst, jeder an seinem Platz. Allein mit den Monstern, die wir unter fremden Betten hervorholten.
Selbstvergessen ziehe ich das Handy aus der Hosentasche, checke die Mails. Mein Finger tippt in das Mailingprogramm, dann die Löschtaste, bis der Bildschirm in jungfräulicher Blässe schimmert.
Du greifst zur nächsten Zigarette, ich stecke das Gerät weg und betrachte die Bäuerin, die schmunzelnd introvertiert ihre Geschichte verstrickt.
Wer strickt bleibt. Wer schreibt bleibt.
Auf der Stelle. Am Fleck.
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